Ich werde von Schulpsychologinnen[1] während Teamentwicklungen und Supervisionen immer wieder gefragt, wie ich es geschafft habe, die Schulpsychologie systemischer auszurichten. Vorauszuschicken ist, dass heute ja alle systemisch arbeiten. Zumindest in ihrer Selbstbeschreibung. Sehr oft ist das aber mehr Behauptung als gelebte Realität, denn die systemische Lehre ist ein ziemlich radikales Konzept mit massiven Auswirkungen auf die eigene Sicht- und Arbeitsweise. Doch wie habe ich die Wende von vielen Einzelfallabklärungen zu einer ganzheitlichen und systemisch geprägten Arbeitsweise geschafft? Diese Gedanken sind der Versuch einer Erklärung.
Vom Zweifel, der Überforderung und der fehlenden Wirkung
In meinem ersten Jahr auf dem Schulpsychologischen Dienst Zug, vor ziemlich genau 20 Jahren, hatte ich in einem 70%-Pensum 135 Anmeldungen abzuarbeiten. Das hiess damals, bis zu drei Kinder am Tag mit psychometrischen Testverfahren zu beurteilen, danach mit der Lehrperson die Resultate vorzubesprechen, für jedes dieser Kinder einen Bericht zu schreiben, am Schlussgespräch die Resultate zu präsentieren und Lösungen vorzuschlagen. Weil Massnahmen mitunter auch gegen den Willen der Eltern verfügt wurden, bedeutete das oft Frustration auf allen Seiten. Mir war bereits nach diesem ersten Jahr klar, dass ich das so nicht lange mitmachen würde. Einerseits war die Arbeitsbelastung enorm hoch. Andererseits, so schien mir, wurde wenig meines psychologischen Wissens oder meiner psychologischen Fähigkeiten wirklich gebraucht. So hatte ich mir Psychologie in der Praxis nicht vorgestellt.
Die von mir übernommene Gemeinde Baar hatte auf dem Schulpsychologischen Dienst keinen guten Ruf, weil sie viele Anmeldungen generierte, Probleme an die Schulpsychologinnen delegierte und in sehr separativer Weise dachte und funktionierte. Das war zwar zu diesem Zeitpunkt noch durchaus üblich, entsprach aber schon damals nicht meiner Haltung. Der Schulpsychologische Dienst andererseits war bei der Gemeinde auch nicht wohlgelitten. Bürokratie, Realitätsfremdheit und die grosse gefühlte Distanz prägten das Bild[2].
Sowohl für die Gemeinde als auch für die Schulpsychologinnen war das Bild von Schulpsychologie genauso, wie oben beschrieben. Diese Art Schulpsychologie war immer eng damit verbunden, dass Kinder Massnahmen zugewiesen werden oder die Schulpsychologin zusätzliche Ressourcen beantragt. Dies ist zum Teil bis heute so und stellt für mich einen Hauptgrund für die Arbeitsbelastung vieler Schulpsychologinnen dar. Es ist ausserdem einer der Gründe dafür, dass für weitere wichtige Tätigkeiten wie Prävention oder wirkliche psychologische Dienstleistungen keine Zeit mehr bleibt. Doch dazu später mehr.
Warum verbringe ich heute fast mehr Zeit in der Schule als in meinem Büro? Wie kam es dazu, dass testpsychologische Abklärungen nur noch einen Bruchteil meines Arbeitsalltags ausmachen, während sich beinahe unzählige neue Arbeitsfelder dazugesellten? Davon handelt dieser Artikel. Mein Weg zur systemischen Schulpsychologie war von drei Wenden geprägt.
Die bedürfnisorientierte Wende – Integration
Bereits in meinem zweiten Jahr begann ich eine Zusatzausbildung in Mediation. Ich kam dadurch erstmals mit systemisch-konstruktivistischem Gedankengut in Kontakt (was später zu einer weiteren Wende führte) und bekam auch hilfreiche Werkzeuge und Einsichten, die meinen Berufsalltag massiv erleichterten.
Die erste Einsicht war, dass Menschen zu ziemlich jedem Zeitpunkt ihres Lebens Bedürfnisse haben und von diesen geleitet werden. Die Krux dabei ist, dass sie diese selten kennen und benennen können. Mir wurde allmählich klar, warum Menschen nach meinen Abklärungen und den Lösungsvorschlägen nicht zufrieden waren. Die vorgeschlagenen Lösungen deckten sich offenbar nicht mit ihren Bedürfnissen. In einigen Fällen erfüllten die Lösungsvorschläge vielleicht die Bedürfnisse einiger, vornehmlich auf Seiten der Schule, aber nie die aller Beteiligten.
Eine zweite Einsicht war, dass Menschen unterschiedlich hören und sprechen. Das vier-Seiten-Modell (Schulz von Thun, 2006) führte mir exemplarisch vor Augen und Ohren, dass unsere Kommunikation geprägt ist von Missverständnissen. Da Kommunikation in der Folge nie klar ist, braucht es Feedbackschleifen. Diese wiederum brauchen Zeit, sehr viel Zeit. Je länger ich mich mit Kommunikation beschäftigte, umso klarer wurde mir, dass gerade im schulpsychologischen Kontext selten alle Personen auf dem Sachohr hörten oder auf der Sachebene sprachen. In Gesprächen begann ich daher zunehmend, alles Gehörte zu versachlichen, sodass die Kommunikation möglichst konfliktfrei und sachlich verläuft. Das bedeutete keineswegs, dass die Emotionen der Beteiligten keine Rolle mehr spielen durften. Im Gegenteil. Durch die Bedürfnisorientierung wurde vielmehr klar, weshalb diese Gefühle überhaupt entstanden. Mit der Akzeptanz und der Bearbeitung der Bedürfnisse wurde ein Raum für die Gefühle geschaffen, in dem sie Platz hatten, aber nicht zwingend bearbeitet werden mussten.
Die dritte Einsicht war, dass Menschen Lösungen dann mittragen, wenn sie an deren Findung beteiligt sind. Es klingt simpel und logisch, dennoch hatte ich Schulpsychologie anders gelernt. Mir war vermittelt worden, dass die Schulpsychologin die Expertin war, die am Schluss den Beteiligten die Lösung vorschlug. Mir war immer mulmig dabei gewesen, als alleiniger Experte adressiert zu werden. Dies implizierte nicht nur, woher die Lösungen zu kommen hatten, sondern auch, wer im Fall des Scheiterns die Verantwortung dafür zu tragen hatte.
In der Mediation ist die Mediatorin nur für den Prozess und nicht für die Inhalte verantwortlich. So begann ich nach und nach, zumindest meine Schlussgespräche anders zu gestalten: Weniger Zeit für die Rückmeldung der Resultate und stattdessen viel Zeit für den gemeinsamen Austausch darüber, was diese Resultate für jede Einzelne bedeutete. Ich hörte auch damit auf, die Schule vorab über die Resultate zu informieren. Ab da bekamen alle Beteiligten die Resultate gleichzeitig zu hören und zu sehen. Das gezielte Erfragen der Bedürfnisse, sowohl der Eltern als auch der Lehrperson, eröffnete in den Gesprächen ausserdem plötzlich neue Möglichkeiten der Lösungsfindung.
Mittlerweile hatten in der Schule auch die Schulsozialarbeit und Schulische Heilpädagogik Einzug gehalten. Es sassen mehr Personen am Tisch. Diese brachten zwar wiederum Bedürfnisse mit, konnten sich aber auch bezüglich der kreativen Lösungsfindung einbringen. Aus meiner Sicht ein Gewinn für alle. Meine Rolle veränderte sich vom alleinigen Experten hin zu einem Leiter des Prozesses, der versuchte, alle Beteiligten in die Lösungsfindung und deren Umsetzung zu integrieren. Dazu gehörte etwa auch, dass ich an Gesprächen teilnahm, in denen es Konflikte zwischen den Eltern und der Schule gab, ich aber das Kind nicht kannte. Ich stellte also psychologische Dienstleistungen zur Verfügung (z.B. Konfliktbearbeitung oder Vermittlung), die gänzlich von einer Anmeldung des Kindes beim Schulpsychologischen Dienst unabhängig waren. Dies erlaubte mir einerseits, das Bild von Schulpsychologie mit zusätzlichen Kompetenzen anzureichern und andererseits vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen, auf deren Basis die nächsten Entwicklungsschritte ermöglicht wurden.
Was sich trotzdem selten änderte, waren die Fragestellungen. Mir fiel auf, dass gewisse Lehrpersonen immer wieder mit derselben Fragestellung an mich gelangten, während andere Lehrpersonen diese Fragen nie stellten, obwohl sich das Verhalten der Kinder ziemlich glich. Ich begann mich zu fragen, woran das liegen könnte. Antworten fand ich in der nächsten Zusatzausbildung, die ich in Angriff nahm.
Die systemisch-konstruktivistische Wende – Prävention
Mit der Ausbildung zum Coach/Supervisor/Organisationsentwickler veränderte sich nicht nur mein Blick auf die Dinge, weg vom Individuum hin zu einer übergeordneten Ebene. Gleichzeitig kam ich über das Buch «Beratung ohne Ratschlag» (Radatz, 2000) wieder in Kontakt mit dem systemisch-konstruktivistischen Konzept. Dieses Buch hat meine schulpsychologische Arbeit und meine Haltung gegenüber Beratung massiv und nachhaltig verändert. Wenn – wie der Konstruktivismus besagt – jeder Mensch seine eigene Wirklichkeit konstruiert[3], dann sind in diesen Konstruktionen auch die Probleme zu suchen. Mir wurde klar, dass ein Grossteil der Fragestellungen, die an mich herangetragen wurden, viel mit der Art und Weise der Wirklichkeitskonstruktion der fragenden Person sowie den strukturellen Rahmendbedingungen und gleichzeitig wenig mit dem Kind zu tun hatten. Mir fiel auf, dass gewisse Kinder bei einer neuen Lehrperson kaum mehr aneckten oder mehr Probleme verursachten als früher. Wie wahrscheinlich war es also, dass die Problematik nur durch das Kind verursacht wurde? Für mich war die Antwort klar – klein.
Ich fragte mich, wie man diese Wirklichkeitskonstruktionen im System adressieren könnte. Allein ging das nicht. Wenn eine Person von ausserhalb des Systems Rückmeldungen gibt, kommt das nicht immer gut an, erst recht nicht, wenn sie einer anderen Fachrichtung angehört. Es ging mir auch nicht um Kritik, sondern viel eher darum, psychoedukativ tätig zu werden und diese Phänomene ins Bewusstsein der Personen im System zu heben. Ich brauchte also Mitstreiterinnen, die eine hohe Glaubwürdigkeit im System genossen und als Multiplikatorinnen fungieren konnten. Mir schwebte deshalb eine interdisziplinäre Zusammenarbeit (IDZ) vor. Davon hatte ich vereinzelt in anderen Schulen gehört. Ich sah darin verschiedene Chancen: Einerseits kann eine gemeinsame Lösungsfindung die Tragfähigkeit der Lösungen erhöhen und andererseits – mit Blick auf die Organisation – kann dadurch Entwicklung und gegenseitiges Lernen im System stattfinden. Wissen ist in Organisationen meist genug vorhanden, es ist nur selten wirklich vernetzt. Da ich kein Pädagoge bin, habe ich, wie alle anderen auch, Wissenslücken. Ich dachte mir, dass IDZ-Sitzungen die Ohnmacht reduzieren und den Blick auf die Phänomene weiten würde, weil sich mit dem Zusammenführen der verschiedenen Sichtweisen der Handlungsspielraum erweitern würde. Ausserdem war ich überzeugt, dass der Multiplikationseffekt um einiges grösser wäre als bei einer Einzelfallabklärung. So begannen wir um das Jahr 2010 herum mit der IDZ.
Von Anfang an war klar, dass es bei diesen regelmässigen Sitzungen (bis zu vier Mal pro Semester und Schulhaus, bei grösseren getrennt nach Unter- und Mittelstufe) nicht darum ging, dass die Schulpsychologin kommt und die Phänomene erklärt. Vielmehr war das Ziel, gemeinsam mit allen Fachpersonen und der Schulleitung[4] prozesshaft zu diskutieren, was man fürs Kind noch tun könnte, lange bevor eine Anmeldung beim SPD überhaupt zur Debatte stand. Die psychologische Sichtweise konnte auf diesem Weg viel früher und zielführender ins System gelangen, ohne dass ein Kind bei mir angemeldet werden musste. Gleichzeitig verlagerte sich meine Arbeit von der Intervention zur Prävention. Während zu Beginn der IDZ-Sitzungen vornehmlich Kinder mit Lernschwierigkeiten thematisiert wurden, wurde mit der Zeit der Blick auf das System ausgeweitet. Dabei sprachen wir in den IDZ-Sitzungen nicht nur über Kinder. Die Metaperspektive erlaubte es auch, Belastungen bei Lehrpersonen anzusprechen und aufzugreifen. Damit konnte ich nun vermehrt meine psychologischen Kompetenzen nutzen.
Nach etwa zwei Jahren reduzierten sich ausserdem die Zahlen der testpsychologischen[5] Abklärungen deutlich. Nicht zuletzt auch deshalb, weil wir den Begriff Abklärung neu definierten: Weg von einer rein testpsychologischen Abklärung auf dem SPD, hin zu einer systemischen Abklärung, bei der eine Testung auf dem SPD zwar denkbar aber nicht zwingend erforderlich war. Von da an war der Zugang zu meinen Dienstleistungen massiv vereinfacht und nicht mehr an die Anmeldung eines Kindes gebunden.
Je präsenter[6] ich im System war, desto mehr fielen mir auch die strukturellen Zusammenhänge auf. Nicht nur die Wirklichkeitskonstruktion der einzelnen Menschen hatten einen Einfluss, sondern auch die strukturellen Rahmenbedingungen. Durch meinen Blick als Organisationsberater begann ich auch auf dieser Ebene genauer hinzuschauen.
Es war mein Glück, dass das Rektorat der Schulen Baar (im Kanton Zug steht jeder Schulgemeinde operativ eine Rektorin, meist mit Prorektorinnen, vor) ebenso offen für eine Zusammenarbeit war, wie die Schulleitenden und die Fachpersonen. In regelmässig stattfindenden Gefässen (meist zwei Mal pro Semester) tauschten wir Schulpsychologinnen uns mit dem Rektorat aus. Dabei wurde über alle Organisationsebenen hinweg gedacht und diskutiert. Ein Austauschgefäss mit dem Rektorat, den Schulpsychologinnen und dem Sozialdienst wurde ebenso installiert. Gleichzeitig begannen wir uns auch mit den Schulsozialarbeitenden regelmässig zu treffen. Alles mit dem Ziel, auf der Metaebene über Probleme und vor allem über Lösungen im System Schule zu diskutieren. Auch da immer auf Augenhöhe. Als kantonaler Schulpsychologe hatte ich den Bonus des Aussenstehenden. Da der Rektor nicht mein Vorgesetzter war, konnte ich auch Themen ansprechen, die im System sonst vielleicht von niemandem angesprochen worden wären. Dieser Aussenblick wurde im Sinne des Qualitätsmanagements und als Grundlage zur Organisationsentwicklung sehr geschätzt. Damit begann eine Zusammenarbeit mit der Schule, in der die Kompetenzen der Schulpsychologinnen auf vielerlei Ebenen beansprucht wurden. Wir konnten von da an die entwicklungspsychologische Sichtweise, z.B. auch in Arbeitsgruppen, einbringen und wurden an Konzepten wie der Erarbeitung einer gemeindeinternen Time-In Struktur beteiligt[7].
Mit dem Wachstum des gegenseitigen Vertrauens, konnte ich auch auf weiteren Ebenen tätig werden. Ich begann Weiterbildungsangebote zu kreieren, die speziell auf die Phänomene in der Schule zugeschnitten waren. Um beispielsweise die exekutiven Funktionen ins Bewusstsein der Lehr- und Fachpersonen zu bringen, führten wir an Weiterbildungstagen Workshops zu diesem Thema durch. Oder wir beschäftigten uns in anderen Workshops mit dem Einfluss der Wirklichkeitskonstruktion und der Persönlichkeitsstruktur der Lehrperson auf das Klassenklima. Alles mit dem Ziel, im System für diese Phänomene zu sensibilisieren und die systemisch diagnostischen Fähigkeiten aller Beteiligten zu erhöhen. Schulpsychologie als niederschwellige Organisationsentwicklung, um Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sich die Erwachsenen der Herausforderung gewachsen fühlen, Kindern und Jugendlichen eine möglichst inklusive und tragfähige Umgebung zu schaffen.
Dies alles führte dazu, dass meine Arbeit ab diesem Zeitpunkt viel mehr auf Prävention ausgerichtet war. Mit Prävention bezeichne ich in diesem Kontext alles, was noch vor einer schulpsychologischen Abklärung stattfindet und diese im besten Fall überflüssig macht. Damit reduzierten sich nicht nur die angemeldeten Fälle weiter drastisch. Das System wurde aus meiner Sicht insgesamt tragfähiger, weil man anders auf die Phänomene zu blicken begann und ihnen gegenüber eine gewisse Toleranz entwickelte.
Was war der Schlüssel für diese neue Zusammenarbeit? Systempräsenz und die daraus entstandenen Beziehungen. Mir ist bewusst, dass ich nahezu ideale Bedingungen in dem Sinne vorgefunden habe, dass es über Jahre hinweg eine hohe Konstanz der Personen im System gab, insbesondere bei denjenigen, mit denen ich am häufigsten zusammengearbeitet habe. Gleichwohl lohnt sich die Investition in Beziehungen meiner Ansicht nach immer, unabhängig davon, wie lange diese andauern mögen. Eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, geprägt von gegenseitiger Achtung und Respekt schafft eine Basis, auf der vieles angesprochen werden kann, was sonst unausgesprochen bliebe.
Ich bin überzeugt, dass gerade heikle Themen angesprochen werden MÜSSEN, damit sich, sowohl für Lehr- und Fachpersonen, als auch für die Kinder, gute Rahmenbedingungen ergeben. Aufgrund der Verantwortungsdiffusion bleibt diese Rolle in vielen Systemen allerdings meist unbesetzt. In meiner Erfahrung wird sie bereits nach kurzer Zeit äusserst geschätzt, wenn man sie achtsam und mit wohlwollender Sprache ausfüllt. Veränderung passiert dann, wenn die zentralen Themen auch kritisch benannt werden, obwohl – oder, gerade weil – dies unbequem ist.
Die somatische Wende – Regulation
Die dritte Wende fand bei mir durch neuere Konzepte wie die Polyvagal-Theorie (Porges, 2017), die neue Sicht auf Traumata (Levine, 1998 und Maté & Maté, 2022) sowie die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse bezüglich Mitgefühl (Singer & Bolz, 2013) statt. Mir schien immer klarer, dass fehlende Regulation sowohl bei Kindern als auch bei Lehrpersonen sehr oft zu Schwierigkeiten führte. Dass Kinder von Zeit zu Zeit in unregulierte Zustände geraten, stellte für mich eher die Norm dar. Was mich weitaus mehr beschäftigte, waren unregulierte Zustände bei Lehrpersonen und deren Reaktion auf unregulierte Zustände bei Kindern.
Ich begann, in den interdisziplinären Gefässen vermehrt auf die Relevanz von Ko-Regulation aufmerksam zu machen. Ein zentraler Aspekt bestand für mich darin, darauf aufmerksam zu machen, dass die Regulationsfähigkeiten und exekutiven Funktionen von Kindern aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen bei Kindergarteneintritt nicht mehr so ausgeprägt sind wie noch vor ein paar Jahren. Der Lehrplan 21 trägt dem zwar insofern Rechnung, als dass die überfachlichen Kompetenzen gegenüber den fachlichen aufgewertet wurden. Gleichzeitig registriere ich im Alltag diesbezüglich eine gewisse Überforderung bei Lehr- und Fachpersonen. Sehr oft scheint es an entwicklungspsychologischem Wissen zu fehlen oder es werden überhöhte und nicht mehr zeitgemässe Erwartungen an die Kompetenzen der Kinder gestellt.
Die neueren Definitionen von Trauma gehen davon aus, dass es nicht zwingend ein äusseres, als traumatisch erlebtes Ereignis braucht, um Traumafolgesymptome zu entwickeln. Vernachlässigung oder ungenügende Regulation von kleinen Kindern durch ihre nahen Bezugspersonen können auch dazu führen, dass Kinder Mühe mit der Selbstregulation haben und in hohem Masse davon abhängig sind, dass sie durch Personen von aussen reguliert werden. Dem ist im schulischen Kontext unbedingt Rechnung zu tragen.
Sehr oft wird das Verhalten solcher Kinder als oppositionell und vor allem als hostil angesehen. Ich bin überzeugt, dass das, wenn überhaupt, nur auf einen ganz kleinen Teil der Kinder zutrifft. Die allermeisten sind in einer solchen Situation wirklich verzweifelt und stark unreguliert. Sie haben noch keine Copingstrategien und verfügen somit über keine bessere Möglichkeit, Verbindung zu Menschen herzustellen, die ihnen dabei helfen können, diese Situationen zu meistern[8].
Gleichzeitig wurde es für mich immer wichtiger, der Stigmatisierung oder – wie Omer, Alon & von Schlippe (2015) es nennen – der Dämonisierung[9] dieser Kinder entgegenzuwirken. Dies bedeutete, eine Wirklichkeitskonstruktion zu erreichen, in der akzeptiert wurde, dass die Kinder einen guten Grund hatten, sich so zu verhalten.
Dies systemisch-konstruktivistische Lehre geht davon aus, dass sich jeder Mensch subjektiv richtig verhält, gerade weil die Wirklichkeitskonstruktion eben subjektiv geprägt ist. Es macht im schulischen Alltag einen grossen Unterschied, ob man Kinder als herausfordernd bezeichnet oder, ob man sich als Fachperson herausgefordert fühlt. Letztendlich kann man nur auf eine Person Einfluss ausüben, auf sich selbst. Viel Ohnmacht entsteht in der Schule gerade durch diese «dämonisierende» Sichtweise. «Wenn sich das Kind nur ändern würde, dann könnte ich als Lehrperson glücklich und zufrieden sein!» oder «Wenn nur diese Eltern ihre Erziehungsverantwortung endlich wahrnehmen würden!» Aus meiner Perspektive vergrössert sich dadurch eher die Ohnmacht. Kann man einen Menschen wirklich verändern, auch wenn er es nicht will? Ich bezweifle es.
Das heisst allerdings, dass ich anerkennen muss, dass ich meine Gefühle selber mache[10] und diese nicht durch jemand anderen ausgelöst werden. Ich muss ausserdem anerkennen, dass die Herausforderung bei mir entsteht und wenig mit dem Kind zu tun hat. Damit sind wir wieder bei meiner initialen Frage vor der zweiten Wende: «Warum melden gewisse Lehrpersonen immer wieder mit derselben Fragestellung an?» Sie tun es meiner Meinung nach deshalb, weil die Fragestellung mehr mit ihrer Weltsicht und ihrem (allenfalls fehlenden) Handlungsrepertoire sowie den strukturellen Rahmenbedingungen zu tun hat als mit dem Kind. Damit spreche ich ihnen weder die Legitimation einer Anmeldung noch den Leidensdruck ab. Die Frage ist aber letztendlich, wie man diesem Phänomen effektiv begegnet.
Da bin ich heute dezidiert der Meinung, dass nicht ausschliesslich mit dem Kind, sondern auch mit den involvierten Personen (Lehr- und Fachpersonen, Erziehungsberechtigte) gearbeitet werden muss. Die Erkenntnis, dass wir alle über eine Biographie verfügen, die uns bis heute prägt, (unbewusst – ob wir wollen oder nicht) ist ein zentraler Schlüssel zum Weg aus der Ohnmacht. Wenn ich mich als Lehrperson durch ein Kind herausgefordert fühle, dann hat das viel mit meiner Geschichte und meiner Weltsicht zu tun, die hier anklingt. Das zu regulieren ist neben dem Führen einer Klasse eine grosse Herausforderung. Lehrpersonen haben diesbezüglich mein volles Mitgefühl und ich unterstütze sie gerne in einem Prozess, der sich damit beschäftigt. Sehr gerne sogar.
Ist das denn überhaupt noch Schulpsychologie? Für mich ist dies nicht NOCH Schulpsychologie, sondern dies ist IST Schulpsychologie im eigentlichen Sinn. Wenn ich ein einzelnes Kind testpsychologisch abkläre, ändert sich im System vielleicht im besten Fall etwas für das Kind und die Lehrperson. Wenn ich mit einer Lehrperson arbeite oder versuche, interdisziplinär zu intervenieren, verändert sich unter Umständen etwas für alle. Das hat mitunter dazu geführt, dass wir bei einer belasteten Junglehrperson zusammen mit Schulleitung, Lehrperson, Schulsozialarbeiterin und Heilpädagogin überlegt haben, auf welchen Ebenen wir noch Veränderung herbeiführen könnten. Eine davon war, dass wir nach der Sitzung gemeinsam das Schulzimmer umgestellt haben. Eine andere Massnahme bestand darin, dass ich für den Rest des Semesters jedes Mal, wenn ich im Schulhaus war, eine halbe Lektion im Schulzimmer der Lehrperson gesessen bin, um ihre Präsenz[11] zu erhöhen und sie zu stärken. Genau so haben dies auch Schulleitung, Heilpädagogin und Schulsozialarbeiterin getan.
Ich bin Schulpsychologe und nicht Schülerinnenpsychologe. Als solcher sehe ich mich weder als Anwalt des Kindes noch ihm speziell verpflichtet. Dies entspricht nicht meiner systemischen Grundhaltung. Meine Verpflichtung gilt vielmehr allen Personen gleichermassen: der Rektorin wie der Hortnerin, der Lehrperson wie dem Kind, den Eltern wie der Heilpädagogin. Warum?
Weil Schule eine Gemeinschaft innerhalb unserer Gesellschaft ist, in der alle ihren Teil dazu beitragen, dass diese Gemeinschaft als erfüllend und hilfreich erlebt werden kann. Weil es mir ein Anliegen ist, dass sich die Rahmenbedingungen in der Schule nicht nur für die Kinder, sondern für alle zum Besseren verändern. Weil es letztendlich alle verdienen, gleichwürdig[12] behandelt zu werden.
Der systemische Blick weitet die schulpsychologische Tätigkeit
Kürzlich kam eine Heilpädagogin in den interdisziplinären Austausch und meinte: «Warum treffen wir uns überhaupt, WIR sind uns ja eh meist einig. Wir sollten uns mit den Lehrpersonen treffen!» Da wurde mir erneut bewusst, wie ausbaufähig die systemische Schulpsychologie noch wäre.
Ich hatte beim ursprünglichen Gedanken an Interdisziplinarität vor allem die Heilpädagoginnen und Schulsozialarbeitenden im Blick. Dies, weil sie Multiplikatorinnen sind und somit die anderen Lehr- und Fachpersonen wiederum gut unterstützen können und weil es am Anfang einfacher war, Beziehungen zu knüpfen und Vertrauen aufzubauen, wenn nicht allzu viele Personen beteiligt sind. Das gewonnene Vertrauen und die gelebten Beziehungen haben bei allen Beteiligten zu merklich mehr Gelassenheit geführt.
Der nächste Schritt hin zu einer systemischen Schulpsychologie könnte also beinhalten, dass man die Interdisziplinarität in die Unterrichtsteams bringt. Das erhöht zwar wiederum den zeitlichen Aufwand, stärkt aber potenziell letztlich die Lehrpersonen direkt. Die Lehrperson war für mich zu Beginn meiner Tätigkeit praktisch die einzige Ansprechperson. Im weiteren Verlauf meiner Tätigkeit verlagerte sich der Fokus jedoch von der Lehrperson zur Organisation und zu anderen beteiligten Personen. Neue, auf der Metaebene entwickelte Ideen, bewirkten strukturelle Veränderungen, welche ihren Weg über Multiplikatorinnen wieder zurück zur Basis, also zur Lehrperson fanden. Mit den Lehrpersonen direkt zu arbeiten, würde den Kreis schliessen. Damit wären wir wieder auf derselben Ebene angelangt, auf der vor 20 Jahren alles begonnen hat – und doch stünden wir an einem ganz anderen Punkt.
Ich bin überzeugt, dass die systemische Schulpsychologie eine Antwort auf die aktuellen Herausforderungen in der Schule sein kann. Unsere Gesellschaft verändert sich in einem horrenden Tempo. Die Entwicklung der Schule vermag hier kaum Schritt zu halten. Die Herausforderungen, welche dieser beschleunigte gesellschaftliche Wandel mit sich bringt, sind mannigfaltig: Separation statt gelebter Heterogenität, soziale Desintegration, Armut, Genderfragen, Generationenkonflikte, um nur einige zu nennen. In der Schule sind diese Herausforderungen verdichtet und werden dadurch sichtbar. Der Einordnung dieser Phänomene kommt eine zentrale Rolle zu. Entwicklungs-, Sozial- und Neuropsychologie stellen hervorragende Grundlagen für die Weiterentwicklung der Schule und die Deutung dieser Phänomene zur Verfügung. Dieses Wissen kann praktisch nur über die Schulpsychologie ins System gespiesen werden. Lasst uns DAS zum Alleinstellungsmerkmal der Schulpsychologie machen.
Insbesondere die Solidarität[13] in unserer Gesellschaft bröckelt. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Diskussion um die Wiedereinführung von Kleinklassen[14] deutlich. Die systemische Schulpsychologie, die das Wohl der Lehrperson genauso im Blick hat wie jenes des Kindes, könnte eine Schlüsselrolle bei der Aufrechterhaltung dieser Solidarität und der Entwicklung der Schule hin zu einer inklusiven und systemrelevanten Institution spielen. In der Verbindung der wissenschaftlichen Erkenntnisse aller mit der Schule assoziierten Berufsfelder liegt für mich der Schlüssel zu einer tragfähigen öffentlichen Schule.
Der systemische Blick endet nicht bei der schulpsychologischen Tätigkeit. Er führt vom Mikrosystem (Schulpsychologin) über das Mesosystem (Schule) zum Makrosystem (Gesellschaft). In meiner Vision gehört die Schule nicht ins Zentrum der Gesellschaft, sie IST dieses Zentrum. Ich wünsche mir eine Schule, die sich wieder vermehrt am humanistischen Bildungsideal orientiert. Eine Schule, die Bildung vermittelt, damit Menschen komplexe Zusammenhänge verstehen. Eine Schule, in der Empathie für die Mitmenschen gelebt und folglich Solidarität möglich wird.
Aufbruch und Dank
Mit diesen Gedanken beende ich mein 20-jähriges Wirken als Schulpsychologe im Kanton Zug und breche auf, indem ich innerhalb der Schulpsychologie eine andere Aufgabe übernehme. Ich wünschte mir, dass meine Nachfolgerin mit demselben Wohlwollen empfangen wird, das mir seit Jahren entgegengebracht wird und das die Arbeit zwischen der Schule und mir geprägt hat. Gleichzeitig hoffe ich, dass diese Art der Zusammenarbeit zwischen Schule und Schulpsychologie möglichst lange weiterbesteht und noch stärker systemisch ausgerichtet wird.
Ich gehe jedoch nicht, ohne ein kleines Manifest zu hinterlassen. Dieses stelle ich gerne zur Debatte und sehe es ganz im Sinne des Konstruktivismus nicht als zementiert an, sondern als persönliche Sichtweise auf die systemische Schulpsychologie.
Mir ist bewusst, dass die strukturellen Rahmenbedingungen in jeder Gemeinde und auf jedem Schulpsychologischen Dienst anders sind. Ich habe das Manifest deshalb so zu formulieren versucht, dass es unabhängig von den strukturellen Rahmenbedingungen gelebt werden kann. Eine Einflussnahme oder Veränderung der strukturellen Rahmenbedingungen ist dennoch letztlich eines der Hauptziele systemischer Schulpsychologie.
Dieses Manifest ist die Essenz meiner 20-jährigen Tätigkeit. Es ist keineswegs für alle der Schlüssel zum Glück, aber er war es für mich. Mein Weg, den ich hier beschrieben habe, kann niemand anders gehen oder reproduzieren. Das ist jedoch weder entscheidend noch nötig. Ich habe ihn nur skizziert, um die Aspekte des Manifests herzuleiten und verständlich zu machen. Auch wenn es nicht für alle Schulpsychologinnen die präferierte Arbeitsweise wäre, so bin ich dennoch überzeugt, dass die systemische Schulpsychologie mit einem optimalen Einsatz der wenigen zur Verfügung stehenden Ressourcen, einen maximalen Effekt auf das System und die darin arbeitenden und lernenden Personen hat.
Dieses Manifest ist gleichzeitig auch Ausdruck meiner Dankbarkeit. Dankbarkeit für die vielen Menschen, die ihren Teil dazu beigetragen haben, diese Vision zu einem Stück Realität werden zu lassen und ohne die sich dieses Manifest niemals in dieser Klarheit hätte herauskristallisieren können.
In der Supervision mit jungen Kolleginnen und Kollegen ist es mir ein zentrales Anliegen, dass sie eine Haltung[15] aufbauen. In meiner Erfahrung wird der Aufbau einer Haltung häufig unterschätzt oder sogar übergangen. Die Menschen, mit denen wir es zu tun haben, verdienen es jedoch, dass wir wissen, was wir tun und warum wir es tun. Diese Haltung bildet die unverzichtbare Grundlage der systemischen Schulpsychologie. Die Umsetzung ist bisweilen versperrt mit Hindernissen. Von äusseren Widrigkeiten sollte man sich jedoch weder beirren noch bremsen lassen. Der Dichter Jean Paul (1763 – 1825) hat schon vor zweihundert Jahren gewusst, wie irrelevant diese Hindernisse eigentlich sind und postulierte «Alle Stärke liegt innen, nicht aussen.»
Zitate im Text
[1] Dieser Artikel ist zwecks besserer Lesbarkeit, und, weil es die Realität akkurater abbildet, im generischen Femininum geschrieben.
[2] Es war ein paar Jahre vor meiner Anstellung sogar noch üblich, dass der Schulpsychologe (hier wurde bewusst die männliche Form verwendet) nicht einmal ein Ergebnisgespräch durchführte. Nach der Abklärung wurde ein Bericht verfasst und allen Beteiligten zugestellt.
[3] Der Konstruktivismus geht davon aus, dass es keine Objektivität und somit auch keine allgemeingültige Realität gibt. Diese wird vielmehr von jedem Menschen subjektiv erzeugt und ist vereinfacht gesagt das Produkt einer Verrechnung der Wahrnehmung mit den lebensgeschichtlichen Erfahrungen.
[4] Die IDZ-Sitzung ist auch ein Führungsinstrument. Die Schulleitung ist dank der Sitzung nicht nur über alle potenziell problematischen Situationen im Bilde, sondern nimmt z.B. auch Belastungen von Mitarbeitenden viel schneller wahr.
[5] Damit kein falscher Eindruck entsteht: Ich halte testpsychologische Abklärungen durchaus für sinnvoll, wenn die offenen Fragen effektiv durch testpsychologische Verfahren beantwortet werden können.
[6] Ich ging viel öfter auf Schulbesuch, führte die Schlussgespräche nur noch in der Schule, klärte die Kinder teilweise auch in der Schule ab, also einer ihnen vertrauten Umgebung und blieb auch auf dem Pausenplatz, um mit der Pausenaufsicht zu sprechen.
[7] Diese «Nähe» zur Gemeinde wurde anfänglich ausserhalb der Gemeinde eher kritisch beäugt. Es wurde befürchtet, dass kantonal angestellte Schulpsychologinnen zu «Handlangerinnen» der Gemeinden würden und ihre professionelle Unabhängigkeit verlieren würden. Mich in meiner Rolle so einengen zu lassen, schien mir jedoch nicht hilfreich. Vertrauen schafft man aus meiner Sicht nicht durch Abgrenzung. Im Gegenteil. Es braucht in der Folge allerdings eine erhöhte Sensibilität, hinsichtlich der Rollen, die man ausübt. Kritische Aspekte zurückzumelden, ist auf der Basis von vertrauensvollen Beziehungen viel einfacher. So gesehen erlaubt eine gewisse «Nähe» gekoppelt mit hohem Rollenbewusstsein weitaus kritischere Rückmeldungen, als wenn man aus einer abgrenzenden Haltung heraus argumentiert.
[8] Gerade in solchen Situationen stehe ich zumindest gewissen Interventionen der «neuen Autorität eher kritisch gegenüber. Diese Interventionen bewirken zwar sehr wohl eine Veränderung des Verhaltens, jedoch nicht, weil das Kind die Fähigkeit erlernt hat, sich zu regulieren, sondern infolge des implizit ausgeübten Drucks. Gabor Maté veranschaulichte das in einem Interview mit einem Beispiel: «Wenn Sie ein schreiendes Baby nicht beachten, hört das Baby irgendwann auf zu schreien. Nicht, weil es ihm gut geht und es sich selbst reguliert hat, sondern, weil es aufgegeben hat».
[9] Das Buch «Feindbilder – Psychologie der Dämonisierung» ist meiner Ansicht nach ein zu wenig beachtetes Buch. Omer et al. wählen in diesem Buch bewusst den Begriff der «Dämonisierung», weil sie davon ausgehen, dass sich in der Art und Weise, wie wir Konflikte austragen, die über Jahrhunderte durch Religion geprägte Denkweise manifestiert, in der es gilt, das Böse zu bekämpfen. Sie stellen dieser dämonischen Sicht, in der das Leiden von bösen Eigenschaften oder Absichten kommt, eine tragisch/akzeptierende Weltsicht gegenüber. In dieser stellt das Leiden einen untrennbaren Teil des Lebens dar. Die Gründe für das Leiden werden jedoch weder an der Persönlichkeitsstruktur noch am Verhalten einer anderen Person festgemacht.
[10] Gefühle sind eine Reaktion des Organismus auf die konstruierte Realität, also die Interpretation von äusseren Reizen und ihren Vergleich mit bereits Erlebtem. Konstruktivistisch gesehen hat eine aussenstehende Person keine Möglichkeit, meine Gefühle zu beeinflussen. Es ist vielmehr mein Organismus, der all dies hervorruft, als Reaktion auf das Verhalten oder das Gesagte des Gegenübers. Das bedeutet in letzter Konsequenz auch, dass ich die komplette Verantwortung für meine Gefühle trage und diese also nicht anderen anlasten kann. Sprachlich gälte es hier zu differenzieren zwischen «du machst mich wütend» und «ich werde/bin wütend». Dies hätte massiv reduziertes Konfliktpotenzial in Gesprächen zur Folge.
[11] Diesen Aspekt der «neuen Autorität, also die Solidarität mit belasteten oder herausgeforderten Lehrpersonen, halte ich für sehr zielführend.
[12] Gleichwürdigkeit ist ein von Jesper Juul geprägter Begriff, der besagt, dass alle Menschen dasselbe Mass an Würde verdienen. Die Anerkennung der angeborenen Würde ist eine Präambel der UNO-Menschenrechtskonvention. Gleichwürdigkeit bedeutet explizit nicht, dass alle Menschen gleich sind oder gleichbehandelt werden müssen. Darin impliziert ist jedoch, dass alle Menschen ungeachtet ihrer Unterschiede dasselbe Mass an Würde verdienen.
[13] Vgl. Kälin & Gut-Brun (2021)
[14] Vgl. Kälin (2023)
[15] Vgl. auch Banz (2019)
Das Manifest systemischer Schulpsychologie
Systemisch arbeitende Schulpsychologinnen versuchen:
Die Bedürfnisse aller Beteiligter in gleichwürdiger Weise zu berücksichtigen.
Lösungen werden dann von allen Beteiligten mitgetragen, wenn sie der Meinung sind, dass ihre Bedürfnisse ausreichend berücksichtigt wurden. Dabei sind die Bedürfnisse aller Beteiligten gleichwürdig und subjektiv gerechtfertigt. Ein Bedürfnis einer einzelnen Person ist nicht wichtiger oder wertvoller als die Bedürfnisse aller anderen Beteiligten.
Die Lösungen gemeinsam mit allen Beteiligten (unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Wirklichkeitskonstruktionen) zu (er-)finden.
Die Schulpsychologin ist keine übergeordnete Expertin. Sie ist Expertin für das Führen des Prozesses und für die (Entwicklungs-)Psychologie. Alle anderen Beteiligten sind für ihren Bereich ebenso gleichberechtigte Expertinnen. Das schliesst die Erziehungsberechtigten und das Kind ausdrücklich mit ein. Erst wenn alle vom selben Sachinhalt sprechen, also über eine ähnliche Wirklichkeitskonstruktion verfügen, können tragfähige Lösungen gefunden werden. Niemand im System ist alleine für das Finden einer Lösung verantwortlich. Es ist ein gemeinsamer Prozess, der eine Lösung zur Folge hat, für die sich alle mitverantwortlich fühlen und dementsprechend auch bereit sind, diese mitzutragen.
Die Kommunikation aller Beteiligten fortwährend zu versachlichen.
Kommunikation ist nie klar und die Empfängerin bestimmt über die Botschaft. Diese zwei Grundgesetze der Kommunikationslehre bewahrheiten sich im schulpsychologischen Alltag sehr oft. Es fällt Menschen dabei gar nicht zwingend auf, dass sie auf dem Beziehungs- oder Appel- und nicht auf dem Sachohr hören. Die Schulpsychologin versucht dies durch aktives Zuhören und Paraphrasieren möglichst oft zu verhindern, weil nur eine Kommunikation auf der Sachebene zu wirklichem Verständnis und somit zu Lösungen führen kann.
Nicht neutral, sondern allparteilich zu sein.
Neutral, also unparteiisch zu sein, wird oft dahingehend interpretiert, dass die Person keine Stellung beziehen soll. Es ist allerdings wichtig, dass zumindest eine Person des Systems die Themen, resp. Situationen klar benennt. Nicht förderliche Aspekte müssen angesprochen werden, egal auf welcher Ebene sie entstehen. Wenn man sich allen Parteien und insbesondere der Lösung gleich verpflichtet fühlt, und, wenn alle Parteien das Gefühl haben, gleichwürdig behandelt zu werden, wird das von niemandem im System als parteiisch ausgelegt.
Möglichst oft, interdisziplinär zu arbeiten.
Das Zusammenarbeiten der verschiedenen Berufsgruppen im System Schule ist der Schlüssel zu einer gemeinsamen Wirklichkeitskonstruktion. Diese wiederum ist wie bereits angesprochen eine Gelingensbedingung für tragfähige Lösungen. Es gibt keine übergeordneten Expertinnen in einer interdisziplinären Zusammenarbeit. Allen fallen die gleichen Rechte und Pflichten hinsichtlich der Lösungsfindung und -umsetzung zu.
Auf allen Ebenen der Organisationsstrukturen zu denken und zu handeln.
Probleme in der Schule werden selten allein durch das Kind verursacht. Das Problem wird dennoch vielfach an ihm festgemacht. Wirkliche Lösungen können nur gefunden werden, wenn auch strukturelle Probleme auf der Organisationsebene angesprochen und angegangen werden. Es ist nicht zielführend, einzelne Kinder abzuklären, wenn die Probleme auf struktureller Ebene entstehen oder begünstigt werden. Es braucht in diesen Fällen systemische Abklärungen, in denen jede Organisationsebene ins Blickfeld genommen wird.
So oft wie möglich im System Schule präsent zu sein.
Die Phänomene im System kann man nur (ansatzweise) verstehen, wenn man in diesem System präsent ist. Der Unterrichtsstil, die Beziehungen, die strukturellen Begebenheiten, etc. lassen sich nur im System beobachten und adressieren. Ausserdem entfaltet sich im System auch die grösste Wirkung der eigenen Arbeitsweise.
Unausgesprochene oder unterschwellige Konflikte zu benennen und zu bearbeiten.
Konflikte behindern die Lösungsfindung. Sie müssen deshalb nach Möglichkeit zuerst adressiert und gelöst werden.
Möglichst oft Lösungstrance zu induzieren.
Dass Menschen sich ausgiebig mit der Analyse von Problemen beschäftigen, ist in gewissem Sinne systemimmanent und aus stammesgeschichtlicher Sicht plausibel. Unser Gehirn lernt aus Fehlern. Die neuste Forschung zeigt allerdings, dass man so weniger gut Lösungen findet. Dies liegt daran, dass bei der Problemanalyse andere neuronale Netzwerke aktiviert sind als bei der Lösungsfindung.
Jegliche Dämonisierung in Systemen zu benennen und aufzulösen.
Dämonisierungen verunmöglichen Lösungen, weil das Gegenüber nicht mehr als gleichwürdiger Mensch angesehen wird. Die Gleichwürdigkeit muss zuerst wiederhergestellt werden, damit eine Lösungsfindung auf Augenhöhe stattfinden kann.
Darauf hinzuarbeiten, dass die in der Schule arbeitenden Menschen sich der Aufgabe so gewachsen fühlen, so inklusiv denken und handeln, dass es die Schulpsychologin nicht mehr braucht.
Auch wenn es utopisch klingen mag, entspricht dies meiner Geisteshaltung. Eine Schule, die so tragfähig ist, dass in ihr jedes Kind seinen Platz findet und in der Lehr- und Fachpersonen frei von Stress arbeiten können: Das ist die Schule, die ich mir wünsche. In einer solchen Schule braucht es keine Schulpsychologinnen mehr.
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